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Berlin – Biel, ein Erbe mit Geschichte

Eine befreundete Regisseurin, die damals bei Bühnen Bern arbeitete, überliess mir im Herbst 2018 ihre Wohnung im Berliner Bezirk Charlottenburg. In Zusammenhang mit einer Theaterproduktion war ich damals auf der Suche nach geeigneten Textilien für das Stück. Auch in der Schweiz gibt es dafür gute Quellen – aber ich hörte auf ein Bauchgefühl, als ich mich in den Norden Deutschlands aufmachte, um danach zu suchen.

Mit den Wohnungsschlüsseln erhielt ich von meiner Freundin den Hinweis, dass auf ihrem Küchentisch ein Buch liege, in dem einschlägige Orte der Stadt notiert wären: Stoffläden, Boutiquen mit Seltenheitswert, textile Fundgruben der besonderen Art.

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Das Buch befand sich an beschriebener Stelle; beim Blättern darin stiess ich rasch auf die Adresse Oleg Ilyapours, der einen Laden mit dem Namen FICHU führte. Am nächsten Tag suchte ich dann die Akazienstrasse 21 in Schöneberg auf. Die FICHU-Ladentür fand ich zunächst verschlossen vor; am Eingang war aber eine Telefonnummer hinterlegt. Oleg meldete sich – entgegen meiner Erwartung – umgehend und versicherte, dass er den Laden gleich für mich öffnen werde.

In der Folge verbrachte ich drei Tage im Laden des verschobenen Tuchhändlers. Oleg zeigte mir die gewebten Kostbarkeiten, die ausser einem schmalen Gang jeden Winkel der Räumlichkeiten bis unter die Decke in Beschlag nahmen. Der Umfang des ganzen Bestandes war eine Wucht! Weitere Stoffbahnen rarer Textilien hatte er auch noch in seiner Wohnung gelagert.

In den Stunden, die wir zusammen verbrachten und während derer wir uns über Stoffe und das Leben unterhielten, war mir die Art Olegs vertraut und ich wurde Zeugin davon, dass der bärtige Mann mit imposanter Gestalt in der Strasse als Stadtoriginal bekannt war: Immer wieder traten Leute in das Geschäft und grüssten ihn beim Namen. Befanden sich Personen darunter, deren Interesse ihm zu wenig ausgeprägt schien, schickte der Besitzer diese auch mal weg.

Auf einmal fragte mich Oleg unvermittelt, ob ich seinen Laden – oder besser gesagt dessen mehrere Tonnen schwere Inhalt – einmal von ihm erben möchte. Als ich darauf mit Ja antwortete, erklärte er mir, dass andere Menschen, die er bisher danach gefragt habe, abgelehnt hätten.

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Die drei Tage in Berlin waren meine einzige Begegnung mit Oleg Ilyapour. Nach meiner Abreise blieben wir beide aber in Kontakt miteinander. Einmal erneuerte er sein Angebot und versicherte sich bei mir, ob ich es mit der Übernahme seines Nachlasses wirklich ernst meine. Er würde mich in diesem Fall in seinem Testament berücksichtigen. Ob er damals bereits fühlte, dass er bald sterben wird, weiss ich nicht. Olegs grossherzige Offerte rückte bei mir etwas in den Hintergrund, als ich mit der Schwangerschaft und der Geburt meiner Tochter beschäftigt war. Im Juni 2021 meldete sich Olegs Neffe bei mir und teilte mir mit, dass ich von seinem eben verstorbenen Onkel als Erbin seiner Stoffe benannt worden war.

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Sein Neffe, Freunde und Bekannte des Verstorbenen machten sich dann gemeinsam an die Auflösung von Olegs Laden, den er während 35 Jahren führte und den seine Mutter 1929 eröffnet hatte. Auch ich fuhr nach Berlin und lernte in dieser Zeit weitere Menschen kennen, die Oleg nahestanden. Erst in diesem Moment begann ich zu realisieren, welches Glück mir zuteilwurde und wie wertvoll die von Oleg gesammelten Stoffe für mich und meine Arbeit sein würden.

Familie und Freunde unterstützten mich schliesslich bei der logistischen Herausforderung, die es bedeutete, diese ganzen Stoffbahnen in die Schweiz zu transportieren. Vorübergehend lagerte der Bestand nahe Basel – von da machte ich ihn Interessierten zugänglich und griff für meine eigenen Projekte darauf zurück.

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Nun freue ich mich sehr darüber, dass ich in der Stadt Biel/Bienne, da wo ich lebe, einen Ort gefunden habe, wo ich FICHU weiterbetreiben darf. Ich will diesen seltenen Fundus vergriffener und in einer Qualität produzierten Stoffe, wie es sie heute nicht mehr gibt, im Sinne Oleg Ilyapours mit anderen teilen. Als Abnehmende dafür kommen Theater, Schulen oder Private in Frage – oder wie es Oleg gehalten hat: Das Interesse muss stimmen.

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